Jeannette Hoffmann

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   Bis Weihnachten... vielleicht


1975

 Es schneite so gut wie nie an der Nordsee, und wenn, dann eher in den ersten beiden Monaten eines neuen Jahres. Norwin saß am Fenster und schaute auf seinen Vorgarten, der ohne Blätter trostlos aussah. Und nicht nur der Vorgarten – alles war deprimierend: die ewige Dunkelheit, der ständige Sturm und Nieselregen, der das Moos zwischen und mittlerweile auch auf den Terrassensteinen sprießen ließ. Die Feuchtigkeit drang durch die Fensterritzen, die er so gut er konnte, abgedichtet hatte. Es war der zwanzigste Dezember, und wieder würde er ein einsames Weihnachten feiern, sofern man überhaupt von feiern sprechen konnte. Das Jahr 1975 neigte sich dem Ende zu. 

Einen Hund sollte er sich anschaffen, dachte er zum wiederholten Male. Warum hatte er es bisher nicht getan? Zum einen hatte er keine Ahnung von Tierhaltung. Die Gründe, die ihn früher davon abgehalten hatten, sich einen Hund zu kaufen, fielen jetzt weg. Nach dem Abitur hatte er ein Fernstudium für Agrarwirtschaft aufgenommen. Seine Eltern waren kurz nacheinander verstorben. Zuerst der Vater, der sich auf seinem Kutter erkältet hatte und schließlich von einer schweren Lungenentzündung dahingerafft wurde. Seine Mutter war – das vermutete er – an gebrochenem Herzen gestorben. Sehr viel später sollte er lernen, dass es tatsächlich das Broken Heart Syndrom gab. Sein Vater hatte mit seinem Kutter Fischfang betrieben, wie so viele Büsumer. Später hatte er interessierte Feriengäste mitgenommen und ihnen die Sand- und Seehundbänke gezeigt. Seine Mutter führte eine Pension in diesem Haus, die beiden Zimmer im oberen Stockwerk wurden dazu benutzt. Die Ersparnisse gingen in den Kauf von Eigentumswohnungen, die ebenfalls an Feriengäste vermietet wurden. Um die Bewirtschaftung kümmerte sich seine Mutter. Er war so aufgewachsen, dass er seine Eltern nicht oft zu Gesicht bekam und im Sommerhalbjahr überall aushelfen musste: entweder auf dem Kutter oder bei seiner Mutter. Also war ein Studium in einer anderen Stadt ausgeschlossen, aber da er etwas studieren wollte und auch sollte, war das Fernstudium eine gute Sache für ihn gewesen. Kurz nach dessen Abschluss wurde er innerhalb eines Jahres Vollwaise. Dreißig Jahre war er nun. Mit dem Fischfang hatte er nicht viel am Hut, weshalb er den Kutter seinem Onkel überließ, der jetzt mit zwei Schiffen arbeitete und ihm seinen Anteil auszahlte. Seine weitere Einnahme bildete die Ferienvermietung, und so kam er auch ohne irgendeine Festanstellung gut durchs Leben. 

Er ging durch den inzwischen fast völlig dunklen Flur in die Küche, vor dem großen Spiegel blieb er stehen. Das leere Haus und die Stille, die zu dieser Zeit in Büsum herrschten, dazu seine Einsamkeit bedrückten ihn. Norwin knipste das Licht an und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Es war noch ein wenig zu früh dafür, aber egal – niemand war da, um ihm Vorhaltungen zu machen. Durch das Fenster sah er die Straße hinunter, und vor fast jedem Haus gab es Weihnachtsschmuck und -beleuchtung. Nur das Haus schräg gegenüber war völlig dunkel. Merkwürdig, dachte er. Dort wohnte die Andresen-Familie; es war doch hoffentlich nichts passiert? Vor zwei Tagen hatte er in seiner Straße Blaulicht gesehen, das eine geschlagene halbe Stunde in sein Wohnzimmer hineingeleuchtet hatte. Natürlich war er neugierig gewesen und hatte hinausgeschaut, aber welches von den schräg gegenüber liegenden Häusern da vom Notarzt besucht wurde, konnte er nicht genau ausmachen. Hinausgehen und nachsehen wäre ungehörig. Aber jetzt kam ihm der Gedanke, dass es jemanden von den Andresens getroffen haben konnte. Gerade, als er das Glas Rotwein ansetzte, sah er aus dem Haus eben jener Familie eine Gestalt kommen. Sie überquerte laufend die Straße direkt zu ihm! Hastig stellte er sein Glas ab, was einige Flecken auf einer Tischdecke, die nach stilistischen Gesichtspunkten in die Mülltonne gehörte, verursachte. In dem Moment klingelte es, mehrmals hintereinander, fordernd. Er sprintete zur Haustür und riss sie auf. Eine schöne junge Frau stand vor ihm. 

"Moin", sagte er und zwang sich, sie nicht anzustarren. 

"Norwin? Erkennst du mich nicht wieder?"

"Fenja? Meine Güte! Entschuldige, aber du hast dich sehr verändert, seit wir uns zuletzt gesehen haben."

Vielleicht hätte sie zu einem anderen Zeitpunkt kokett gefragt: "Zum Guten oder zum Schlechten?" 

Aber nun huschte nicht einmal ein Lächeln über ihr Gesicht. 

"Was ist passiert? Doch hoffentlich nichts mit deinen…"

"Mein Vater ist gestorben." Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, liefen ihr Tränen übers Gesicht. Automatisch nahm er sie in die Arme – nicht zum ersten Mal, aber das lag lange, lange zurück. Als ihr Schluchzen verebbte, führte er sie ins Wohnzimmer und setzte sie behutsam in den Sessel. Das Licht hatte er noch nicht angeschaltet, und da er plötzlich seine, oder besser gesagt, die Möbel seiner Eltern mit ihren Augen sah, beließ er es bei einer kleinen Tischstehlampe in der Ecke. Er nahm eine Flasche Korn aus dem Schrank und zwei Gläser, schenkte ein und reichte ihr ein Glas. 

"Trink", sagte er. "Zur Beruhigung."

Wie eine richtige Deern aus dem hohen Norden kippte sie, ohne das Gesicht zu verziehen, die Flüssigkeit in den Rachen. Dann hielt sie ihm das Glas wieder hin. Er schenkte nach. Diesmal brauchte sie zwei Schlucke, um den scharfen Schnaps in den Magen zu befördern. 

"Was ist passiert?" fragte er. 

"Dad bekam Atemnot, woraufhin meine Mutter die Ambulanz anrief. Sie haben ihn im Krankenhaus bearbeitet, so gut es ging, im Krankenwagen auch schon, sagte sie. Aber bald nach seiner Ankunft ist er gestorben. Eine Lungenembolie war es wohl."

Er hatte nichts davon gehört, obwohl er sich einbildete, in dieser Gegend fest etabliert zu sein. Es wohnten in der unmittelbaren Umgebung nur Alteingesessene. 

"Warst Du hier?"

Sie schüttelte den Kopf. "Ich bin vorhin aus Flensburg hergekommen."

"Aus Flensburg? Was machst du dort?"

"Ich studiere. Letztes Jahr bin ich angefangen. Vorher habe ich gejobbt."

Norwin überlegte. Er hatte Fenja seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie hatte sich enorm verändert in diesem Zeitraum. Früher war sie ein hellblondes Pummelchen gewesen mit fast unsichtbaren Wimpern und Augenbrauen, vom Babyspeck ganz abgesehen. Jetzt saß da vor ihm eine bildschöne Frau mit glatten, blonden Haaren, die in der Mitte gescheitelt waren, und ausdrucksvollen Augen. Das Pummelige hatte sie vollkommen hinter sich gelassen. 

"Läuft es gut mit dem Studium?"

Sie nickte. "Hör zu… Weshalb ich hier bin – wir wissen nicht, was zu tun ist."

Norwin dachte nach. Noch zu gut konnte er sich an den Tag erinnern, als sein Vater gestorben war. Auch er hatte damals zuerst seinen Onkel angerufen, weil sie beide – er und seine Mutter - völlig mit der Situation überfordert waren.

"Du musst einen Bestatter anrufen. Der hilft dir in jeder Beziehung weiter."

Fenja runzelte die Stirn. "Ich kenne gar keinen."

Norwin stand auf und zog ein völlig zerfleddertes Telefonbuch aus dem Regal. 

"Hier", sagte er. "Den hatten wir damals bei meinem Vater. Äh… und ich später auch bei meiner Mutter."

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Ja, ich habe gehört, dass deine Eltern so schnell hintereinander gestorben sind. Tut mir leid. Und mehr noch, dass ich dir damals nicht kondoliert habe."

Er winkte ab. "Du warst ja schon lange weg; ich habe gar nicht damit gerechnet, von dir zu hören. Wie ist es – soll ich da für dich anrufen?"

Sie nickte, und er ging in den Flur zum Telefon. Nach einer Weile rief er nach ihr und reichte ihr den Hörer. Es war besser, sie sprach selbst mit ihm. Fünf Minuten später legte sie den Hörer auf und meinte, er käme heute noch bis achtzehn Uhr. Er reichte ihr seinen Schirm; es hatte angefangen zu regnen. Dann wünschte er ihr alles Gute und trug ihr Grüße an die Mutter auf. Sie verschwand, und schon fühlte er sich wieder einsam. Eine Weile stand er da, spürte noch die Gegenwart von Fenja, dann schüttelte er den Kopf und brachte ihre Schnapsgläser in die Küche.  

Am Heiligabend war das Wetter womöglich noch trostloser als schon die Tage zuvor. Norwin fuhr einkaufen, um sich für die Feiertage einzudecken und zögerte, als er auf dem Parkplatz einen Stand mit verschieden großen Weihnachtsbäumen sah. Ihm kam eine Idee, und kurzentschlossen griff er nach einem Baum, der gut gewachsen war und nicht zu groß. 

Zu Hause suchte er überall nach Tannenbaumschmuck und wurde schließlich auf dem Dachboden fündig. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er keinen Baum mehr geschmückt, und seine Eltern waren, so lange er denken konnte, mit einem Adventskranz zufrieden gewesen. Er machte sich ans Werk, und am frühen Nachmittag stand der Baum und sah so schön aus, dass ihm die Tränen kamen. Wütend über sich selbst hätte er beinahe den gesamten Schmuck abgerissen und den Baum in den Garten geworfen, aber dann sagte er sich, warum nicht mal sentimental sein? Er zog sich eine Jacke an und wanderte die Straße entlang, bis er vor dem dunklen Haus von Fenja und ihrer Mutter stand. Er klingelte und war erstaunt, dass jemand öffnete. Saßen die beiden Frauen da im Dunkeln und weinten vor sich hin? 

Es war Frau Andresen, der er gegenüberstand. "Mein herzlichstes Beileid", begann er. 

Sie schüttelte den Kopf. "Ist schon gut. Aber vielen Dank."

"Ich wollte… Sie fragen, ob Sie Lust haben, mit mir Weihnachten zu feiern? Na ja, feiern ist ein blöder Ausdruck. Aber ein bisschen zusammensitzen, ein Gläschen trinken…", er fühlte sich unbehaglich, zumal Frau Andresens Gesichtsausdruck völlig ausdruckslos war. Dann schüttelte sie langsam den Kopf und brachte ein knappes 'Nein, danke' über die Lippen, bevor sie sich umdrehte und ihm beinahe die Tür vor der Nase zuschlug. Frustriert über ihr Benehmen ging er wieder zurück zu seinem Haus. Was war los mit der Frau? Ein bisschen mehr Höflichkeit wäre ja wohl… Doch dann fiel ihm eine Bemerkung seiner Mutter von vor über fünfzehn Jahren ein. Hatte sie damals recht gehabt mit ihrer Behauptung? Seinerzeit hatte er sie nicht gleich verstanden, und als das Gesagte zu ihm durchdrang, hatte er nur höhnisch gelacht und abgewinkt.

 Also beschloss er, allein zu bleiben – es blieb ihm ja auch nichts anderes übrig – und den Heiligabend möglichst stilvoll zu begehen. Aus Eierlikör und Milch bereitete er sich einen Eggnog zu, er zündete die Kerzen am Weihnachtsbaum an, schaltete sämtliche Lampen aus und fläzte sich auf sein Sofa. Im Fernsehen gab es nichts Vernünftiges, und zum Lesen hätte er das elektrische Licht anschalten müssen, aber dann könnte er seinen Baum nicht genießen. Also trank er und dachte nach. 

Und schreckte hoch, als die Türklingel die Stille zerriss. Wie lange hatte er geschlafen? Um Gottes Willen – die Kerzen waren fast heruntergebrannt, zum Glück war nichts passiert. Wie oft hatten ihm seine Eltern eingebläut, niemals irgendwelche Kerzen allein zu lassen. Er rannte zur Tür und öffnete. Fenja. Unwillkürlich sah er zur Uhr. Halb elf. 

"Darf ich noch… hereinkommen, auf ein Gläschen?" fragte sie. 

Ihm fiel ein, dass er sich am Nachmittag ihrer Mutter gegenüber so ausgedrückt hatte. "Hast du gehört, dass ich vor eurer Tür stand?"

Sie nickte. "Ich fand Mutters Benehmen unmöglich und habe ihr das auch gesagt, woraufhin sie anfing zu weinen. Also bin ich bei ihr geblieben, bis sie ins Bett gegangen ist. Und hier bin ich nun." Sie zauberte eine Flasche Rotwein aus ihrem bunt gewebten Wollbeutel, die er längst aus der Mode geglaubt hatte. Er öffnete die Tür weiter, und sie trat ein. 

"Fröhliche Weihnachten", sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er nahm sie in den Arm und wünschte ihr ebenfalls alles Gute. Das Wort 'fröhlich' mochte er angesichts ihrer Situation nicht aussprechen, wie schon zuvor bei ihrer Mutter. Sie spazierte ins Wohnzimmer und sagte 'oh'! Dann stand sie bewundernd vor seinem Weihnachtsbaum, obwohl nur noch zwei oder drei flackernde Kerzen kurz vor ihrem Ende standen. Er nahm die Packung und steckte neue Kerzen in die Halterungen, die sie sofort anzündete. Fenjas Augen leuchteten. 

"Schön", sagte sie langgedehnt. 

Er fragte, ob sie den Rotwein bevorzuge oder einen Eggnog. Letzteres kannte sie nicht, also ging er in die Küche, um zwei neue Getränke zuzubereiten. Mit Erstaunen stellte er fest, dass ihm sowohl die Milch als auch der Eierlikör ausgegangen waren. Deshalb hatte er vorhin so gut geschlafen. 

"Eggnog ist alle", rief er. Er hörte sie kichern. 

"Ich habe vorhin alles ausgetrunken und bin dann selig eingeschlafen. Tut mir leid."

"Das macht doch nichts! Du wusstest ja nicht, dass ich kommen würde. Ich trinke eigentlich auch lieber etwas ohne Farbe. Hast du noch den Schnaps von neulich?"

Er nickte und schenkte ihr ein Glas ein. Sein Glas füllte er mit Wasser, dann ging er wieder ins Wohnzimmer. Diesmal nippte sie nur daran, ließ sich aber immer wieder einschenken, wenn das Gläschen leer war. Sie erzählte von dem Abend mit ihrer Mutter. Natürlich hatte es weder einen Weihnachtsbaum noch Geschenke oder etwas Besonderes zu essen gegeben. Sie hatte Fotoalben aus dem Schrank geholt und die Weihnachtsfeste der vergangenen Jahre herausgesucht. Jeder Satz hatte mit 'Weißt du noch' angefangen. Fenja konnte sich die Bilder kaum anschauen, ohne dass ihr die Tränen kamen. Dann hatte sie vorsichtig gefragt, warum sie so unhöflich zu Norwin gewesen sei, er hätte es doch nur gut gemeint. Oder gab es womöglich eine nachbarschaftliche Streiterei, von der sie nichts wusste? Frau Andresen hatte den Kopf geschüttelt und unverständliches Zeug gemurmelt, worauf sich Fenja keinen Reim machen konnte. Sie habe dann angekündigt, dass sie noch zu ihm gehen wolle, und ihre Mutter hatte nur schwach genickt und gemurmelt, Fenja sei ja nun alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.

"Wie? Denkt deine Mutter, ich würde dir etwas antun? Das ist ja albern. Obwohl…", er griff seine Gedanken vom Nachmittag auf. 

"Was?"

"Du bist doch damals abrupt ins Internat geschickt worden. Ich habe das nicht verstanden, denn es lief doch gut mit uns, oder? Hast du irgendwas… zu Hause erzählt?"

Fenja dachte nach und schüttelte den Kopf. "Nein. Ich habe erzählt, was wir in den Stunden, die ich bei dir war, getan haben, meinen Eltern die Schularbeiten vorgezeigt, und alle waren zufrieden."

"Meine Eltern haben mir damals berichtet, dass du nur deswegen ins Internat geschickt worden wärst, weil deine mich nicht mehr als Babysitter gebrauchen konnten. Dann haben sie mich eingehend verhört, was ich mit dir angestellt hätte. So haben sie sich ausgedrückt. Ich war völlig von den Socken seinerzeit."

"Ich war zehn Jahre alt."

Norwin nickte. Er konnte sich noch gut erinnern. 1965 war es gewesen, als sie plötzlich nicht mehr nach der Schule zu ihm kam. Die Eltern hatten die Zehnjährige ins Internat geschickt. 

"Ich war schockiert, dass deine Eltern dich weggegeben hatten. Ich wollte zu euch gehen und fragen, warum, aber meine Eltern hielten mich zurück und meinten, das hätte seine Gründe. Natürlich wollte ich wissen, welche das wären, aber sie taten geheimnisvoll und hüllten sich in Schweigen. Schließlich bekam ich aus ihnen heraus, dass sie das Gefühl hätten, ich würde dich sexuell belästigen. Da wollte ich erst recht mit deinen Eltern sprechen und sie zur Rede stellen, und diesen Blödsinn aus der Welt räumen. Aber dann haben meine Eltern mich davon überzeugen können, dass es keine gute Idee wäre. Und so wurde das Thema totgeschwiegen."

Fenja, die 1955 geboren worden war, kam als Fünfjährige zum ersten Mal in den Haushalt Johannsen. Frau Andresen hatte eine dringende Angelegenheit zu erledigen und suchte händeringend einen Babysitter für das Mädchen. Da sah sie den damals fünfzehnjährigen Norwin die Straße entlangschlendern, Schulranzen unter den Arm geklemmt. Sie war vor die Tür getreten und hatte ihn gerufen. 

"Norwin, kannst du bitte für ein, zwei Stunden auf Fenja aufpassen? Ich muss dringend weg und habe niemanden, der das machen würde. Mitnehmen kann ich sie auch nicht."

Norwin hatte sich eine Sekunde lang gefragt, was Frau Andresen so dringend zu erledigen hätte, dass sie ihr Kind nicht mitnehmen konnte, nickte aber zustimmend. Sie packte ihn am Unterarm, zog ihn ins Haus und zeigte ihm den Laufstall, in dem Fenja saß und mit Puppen und Stofftieren spielte. Sie schaute auf und verzog bei seinem Anblick das Gesicht zu einem Grinsen. So hatte es angefangen. Norwin war sogar drei Stunden bei Fenja, die sich glücklicherweise ganz ruhig verhielt, so dass er am Wohnzimmertisch der Andresens seine Hausaufgaben erledigen konnte. Im Anschluss an diesen Abend hatte er eine Mark pro Stunde bezahlt bekommen. Am nächsten Tag besuchte Frau Andresen seine Eltern und fragte, ob ihr Sohn gewillt sei, jeden Tag nach der Schule auf ihre Tochter aufzupassen. Sie habe eine Arbeit gefunden, die sie dringend benötigte, aber müsse dort bis abends um sechs anwesend sein. Norwins Mutter war einverstanden, wenn Frau Andresen Fenja zu ihnen brächte, damit sie im Notfall einspringen könne und der Junge nach der Schule etwas zu essen bekäme, außerdem könne sie dann helfen. Frau Andresen war einverstanden, Norwin ebenfalls, und so ging es fünf Jahre lang, bis zu dem Tag, als die inzwischen zehnjährige Fenja von einem Tag auf den anderen fernblieb. 

"Ich habe damals nichts, aber auch gar nichts, mit dir gemacht. Wie kamen deine Eltern bloß auf die Idee?"

Fenja zuckte die Schultern. "Ich habe keine Ahnung. Nicht, dass du denkst, ich habe Lügenmärchen erzählt. Das ist definitiv nicht der Fall. Im Gegenteil – ich habe jeden Tag erzählt, was wir gelernt haben, die Hausaufgaben habe ich vorgezeigt, und ich war super in der Schule; beste Zensuren dank deiner Hilfe. Das Internat war erstmal ein Schock für mich. Aber ich bin gut mit den anderen Kindern ausgekommen und habe mich schnell eingelebt."

Was sie nun mache, fragte Norwin. 

"Ich lebe in Flensburg und studiere Betriebswirtschaft." 

Erstaunt riss er die Augen auf. "Du? So hätte ich dich nicht eingeschätzt."

Nun lachte sie laut auf. "Nein? Wie hast du mich denn eingeschätzt?"

"Tja… irgendwie lebendiger, im Leben stehend. Willst du dich wirklich mit solch einem trockenen Zeug befassen?"

Sie zuckte die Schultern. "Ehrlich gesagt, ist mir nichts Besseres eingefallen. Meine Schulfreundinnen hatten teilweise schon klare Vorstellungen von ihrer Zukunft, aber ich nicht. Und meine Mutter meinte, mit BWL kann man immer was anfangen."

"Das stimmt schon. Aber… hast du denn keine Hobbies oder Interessen? Psychologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Politik, Medizin?"

Sie lachte und schüttelte den Kopf. "Nein, leider nichts davon. Ich liebe Musik, aber damit kann ich nichts anfangen. Und ich lese gerne. Ansonsten…" Sie ließ den Satz im Raum stehen. 

Noch zweimal steckten sie neue Kerzen auf den Baum, nun holte er doch die Flasche Rotwein, und sie legte ihren Kopf auf seinen Schoß. Ihre Stimme wurde allmählich schwerer als sie von Kommilitonen erzählte. Anscheinend waren die jungen Leute in der nördlichen Großstadt sehr mit politischen Angelegenheiten beschäftigt. Sie sprach von der Strafrechtsreform, die im Januar in Kraft getreten war (er selbst hatte nur am Rande davon gehört), die Senkung des Volljährigkeitsalters (hätte das nicht eher kommen können, sagte sie grinsend), über die chemische Keule, mit der die ersten Polizeibeamten ausgestattet worden waren, die Erhöhung der Ölpreise durch die OPEC um zehn Prozent. Sie sprach über Maggie Thatcher, und dass mit ihr erstmals eine Frau zur Parteivorsitzenden gewählt worden war. Die Emanzipation der Frau lag Fenja offenbar sehr am Herzen, denn sie äußerte sich mit glühenden Augen über Schwangerschaftsabbrüche. 

"In der DDR sind sie seit 1972 erlaubt, und hier…"

Er lächelte und freute sich, dass sie für eine Weile vom Tod ihres Vaters abgelenkt war. Mit jedem Tag, der ins Land ging, würde es besser werden mit der Trauer, das wusste er aus eigener Erfahrung. Er streichelte ihr Haar, und sie blickte ihn mit lächelnden Augen an.

"Hast du von dem Großbrand in dem KKW Browns Ferry in Amerika gehört?" 

Er nickte, und sie äußerte dezidiert ihre Meinung zu KKWs und sprach dann ohne spürbare Überleitung über die Beendigung des Vietnamkrieges.Norwin lehnte den Kopf an die Sofalehne und gab sich ihrem Monolog hin. Er beteiligte sich kaum an dem Gespräch, teils, weil er zu müde war, teils, weil er ihrer Stimme nachlauschte. Er genoss ihre Gegenwart und dass sie in ihm offenbar einen reifen Menschen sah, mit dem sie über all die Themen sprechen konnte, die sie interessierten. Was er von Bill Gates hielte, fragte sie plötzlich. 

"Wer soll das sein?"

"Der Gründer von Microsoft, zusammen mit Paul Allen."

Er zuckte die Schultern. "Nie gehört."

Sie rollte dramatisch die Augen. "Er soll quasi die Zukunft in seinen Händen halten. So eine Art Gott. Völlig überzogen, irgendwelcher Nonsens aus Amerika."

"Na, wer weiß? Wir werden es sehen. Was macht denn Microsoft?"

Wieder rollte sie die Augen und klärte ihn auf. Er hatte Schwierigkeiten zu verstehen, was sie ihm begreiflich zu machen versuchte. Software? Computer? Was sollte man damit anfangen, außer vielleicht die Steuerung der Herstellungswege in irgendwelchen Fabriken zu bewältigen. Nachdem sie ihm ausführlich die Handlungen von den Filmen Einer flog über das Kuckucksnest und Der weiße Hai erzählt hatte, dachte er, es sei nun spät genug, um dem Heiligabend ein Ende zu bereiten. Die Flasche war leer, und er war auch nicht gewillt, eine neue zu holen. Katerstimmungen hasste er enorm. Also stand er vorsichtig auf und sagte: "Ich denke, du solltest lieber wieder rübergehen. Wenn deine Mutter merkt, wie lange du hier bei mir warst, sind wir sowieso die nächsten Wochen das Hauptthema in Büsum. Also, sei leise!"

Sie lächelte und legte den Zeigefinger an die Lippen. Er brachte sie zur Tür, öffnete diese und spähte die Straße auf und ab. Überall sah man Weihnachtslichter, und ein paar Schneeflocken schwebten zur Erde, blieben allerdings nur auf den Vorgartenrasenstücken liegen. 

"Es schneit! Wie schön!" Sie breitete die Arme aus und tanzte über die verlassen daliegende Straße zu ihrem Haus hinüber. Dort angekommen, winkte sie, er winkte zurück, und dann wurde sie von der offenen Tür verschluckt. 

Norwin ging zurück ins Haus, löschte die restlichen Kerzen und räumte auf. Er war müde, die Augen brannten, aber sein Gehirn lief auf Hochtouren. Im Bett ließ er den gesamten Abend noch einmal Revue passieren, und immer wieder fragte er sich, warum zum Teufel er sie nicht zum Abschied geküsst hatte.  

Ein paar Tage später schaute er immer wieder aus dem Fenster, vor allem Silvester. Eine stille Hoffnung, dass sie ihm auch an diesem Tag Gesellschaft leisten würde. Aber sie kam nicht, und er hegte die Befürchtung, dass sie gar nicht mehr in Büsum weilte. Silvester in Gesellschaft eines zehn Jahre älteren Menschen zu feiern, der nichts sagte, von keinerlei schillernden Ereignissen berichten konnte und nicht einmal über die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse informiert war, darüber diskutieren und sich erregen konnte, war bestimmt viel zu langweilig für sie. Zwei Schnäpse und eine halbe Flasche Rotwein – und das bis in die frühen Morgenstunden. Wahrscheinlich weilte sie schon längst in Flensburg und erzählte ihren Kommilitonen von dem spontanen, skurrilen Weihnachtsabend. Eine Stunde vor Mitternacht ging er mit einer kleinen Flasche Sekt bewaffnet zur Mole, wo er ziemlich allein in der Kälte stand, langsam trank und dem Feuerwerk, das vor dem Hotel Nordseehalle gezündet wurde, zuschaute. Er prostete sich zu, wünschte sich ein gutes neues Jahr und wanderte nach Hause. 

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